Die Preisträger.innen des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises 2022 sind Silke Lambeck aus Deutschland und Nathalie Stragier aus Frankreich.
Am 14. Oktober 2022 wurde zum zehnten Mal der Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis vergeben. Der Preis wurde durch die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Frau Anke Rehlinger, und den Generalkonsul der Republik Frankreich im Saarland, Herrn Sébastien Girard, in der diesjährigen Kategorie „erzählendes Kinderbuch“ in Saarbrücken verliehen.
Die Staatskanzlei hat die Veranstaltung live gestreamt. Hier können Sie die Aufzeichnung sehen.
Silke Lambeck & Barbara Jung
Mein Freund Otto, das Blaue Wunder und ich
Gerstenberg | ab 8 Jahre
Gemeinsam stark sein: Das ist das Leitmotiv des Romans. Das Schwimmbad im Kiez ist eine Institution, Generationen haben hier das Schwimmen gelernt, nun soll es geschlossen werden – was die Freunde Otto und Matti nicht akzeptieren. Wie es ihnen gelingt, viele andere Menschen unterschiedlichen Alters davon zu überzeugen, sich gegen den Abriss zu wehren, schildert Silke Lambeck ideenreich – nicht als Superstrategie, sondern als beharrliches, pragmatisches, im Rahmen des Machbaren angelegtes Unterfangen. Dabei fängt sie viel Berliner Lokalkolorit ein, Stimmungen, Charaktere, in heiterem Tonfall, mal schnodderig, mal ernst. Das Nicht-Aufgeben, das Sich-Organisieren, das Netzwerken: Hier erklärt ein Roman, wie gesellschaftspolitisches Handeln funktioniert.
Die Laudatio | Germaine Goetzinger
In dem Buch Mein Freund Otto, das Blaue Wunder und ich von Silke Lambeck mit Illustrationen von Barbara Jung ist die Farbe Blau allgegenwärtig. Es geht aber weder um Novalis „blaue Blume“, noch lässt Mörike das „blaue Band des Frühlings“ flattern. Auch blüht hier nicht „der blaue Enzian beim Alpenglühn“. Es dauert bis zur Seite 20, bis Hotte, der Eisverkäufer und erwachsene Freund der beiden Hauptfiguren, des Ich-Erzählers Matti und des klugen Otto, die Bezeichnung von früher für das Schwimmbad verwendet, das trotz Sommerhitze geschlossen bleibt: „Es wurde das Blaue Wunder genannt, weil nicht nur das Becken himmelblau war, sondern auch die Rutsche, der Sprungturm, die Pommesbude und die Duschen. Eine einzige Pracht.“
Hier geht es aus Mattis Perspektive um ein ernsthaftes Anliegen: die Bürgerrechte und die Politikfähigkeit von elfjährigen Kindern. Matti spricht das im zweiten Kapitel präzise an: „Und?“ [….„Haben wir deswegen gar keine Rechte? Weil wir Kinder sind?“ „Sind wir eigentlich schon richtige Bürger?“ Exemplarisch wird hier vorgeführt, wie Kinder ihr Anliegen verteidigen und sich durchsetzen. Es gelingt den beiden Freunden nämlich mit ihrer Geburtstagsparty im Park eine Riesensolidarität zu generieren, vor der die Lokalpolitiker einknicken. So geschieht ein blaues Wunder, und das Blaue Wunder kann gerettet werden.
Attraktiv wird das Buch nicht nur durch das Engagement der Protagonisten, sondern durch die Schilderung des Wegs, der nicht ohne Rückschläge bleibt, aber auch durch den entlarvenden Blick auf die Erwachsenen und ihren Opportunismus. Hinzu kommt als positives Moment die reflektierende, dennoch jugendgemäße Ausdrucksweise, die Matti sich offensichtliche bei der Autorin ausgeliehen hat. Sie ermöglicht ein differenziertes Verhältnis zu Erwachsenen, das weder Unterordnung noch Auflehnung bedeutet, keineswegs auf ein eigenes Urteil verzichtet und auch das Paradox nicht scheut.
Somit wird die Reise wichtiger als die Ankunft. Wandel und Anpassung lernfähiger Akteure bilden die Grundlage der Solidarisierung und der Durchsetzung des eigenen Anliegens. Verbindungen liefern dabei auch Nebenstränge. Das trifft etwa auf das Leitmotiv der Wohnungssuche zu, das vorerst Torben und seiner Beziehung zu Mattis Mutter zugeordnet ist, die zusammenziehen und den noch unentschlossenen Matti einbeziehen wollen. Bei der Wohnungsbesichtigung ist Matti, zwar noch nicht ganz überzeugt, renkt aber ein: „Angucken heißt ja noch nichts.“ Doch nach dem Besuch der schönen Wohnung mit dem Immobilienmakler Schmitz sieht es aus, als wenn man sich die Umzugspläne abschminken könnte. Schließlich kommt es zu einer unerwarteten Wende durch die Verknüpfung mit der Haupthandlung. Herr Schmitz, der für die Schwimmbadaktion gewonnen wird, meldet sich zurück und sagt Torben (S. 218) die Wohnung zu. So wird die Aktion von Matti und Otto zu einem Ausdruck der Solidarität zwischen Erwachsenen und Kindern und steht als Zeichen dafür, dass Matti die Beziehung von Eva, seiner Mutter, und Torben akzeptiert.
Parteinahmen werden im Buch zwar deutlich ausgesprochen, sind aber nie erstarrt. Ansprechend werden sie vielmehrdurch ihre evolutive Entwicklung. Dem Leser wird sozusagen eine nachvollziehbare Rationalität des Engagements geboten. Das Denkmalamt etwa tritt zur Überprüfung der Farbwahl doppelt an: ein älterer Mann, der bedauert, dass Silikat- statt Originalfarben verwendet wurden und eine junge Frau, die sich über die Rettung des Schwimmbads freut. Das letzte Wort „Sie müssen noch viel lernen.“ (S. 220) nimmt sich der Mann, in der Leserperspektive aber behält die Frau Recht, ohne dass es ausgesprochen wird.
Auffallend dicht wird das soziale Umfeld abgebildet. Die Erwachsenen etwa werden verschiedenen Kategorien zugeordnet. Zur den Eltern gehört auch Mattis eigenwilliger, geschiedener Vater, der Kunstfotograf. Die Lehrergruppe umfasst neben der „echt strengen“ Rektorin Frau Dr. Hausmann, den „mittelstrengen“ Mathelehrer Herr Reimann, die Lehrer für Englisch, Deutsch und Musik, sowie die Sportlehrerin im Ruhestand Maria Wieland, die meint: „Kinder müssen eigenwillig sein, dass sie was taugen.“
Ein Gegenbild zu den Lehrern sind die Bademeister, die sich dem Kampf anschließen. Farb-, namen- und gesichtslos aber bleiben die Polizisten. Der Kampf ums Schwimmbad als Lehrstück außerparlamentarischer Opposition lässt Politiker wie den Stadtrat Maik Leisegang und den Bezirksbürgermeister Karim Kuhlmann eher als Leisetreter und Opportunisten erscheinen.
Eine Zwischengestalt stellt Torben Niendorf dar. Er ist gleichzeitig Mattis Lehrer und der Freund von dessen Mutter. Als privilegierter Dialogpartner von Matti gerät er oft in die Zwickmühle: „Ich bin in einer ganz blöden Lage. Wenn ich’s ihr nicht sage und sie erfährt es von anderen, ist sie sauer auf mich. Zu recht. Wenn ich es ihr sage, ist sie sauer auf dich. Auch zu recht. Und du bist sauer auf mich. Nicht ganz zu recht, aber egal. Was ich auch mache, es ist Mist.“
Zwei Nebenpersonen spielen eine Kernrolle, der Basketballstar Micky Kopitzky und der Frittenbudenbetreiber Hotte. Als Micky Kopitzky, ein früherer Klassenfreund von Torben, in den Sportunterricht kommt wollen Matti und Otto ihn als Verbündeten gewinnen und werden vorerst enttäuscht, weil er abwinkt und ihnen lediglich seine Handynummer und Mailadresse gibt. Zu dem Zeitpunkt sei er in USA. Die Kirsche auf den Kuchen der Solidaritätswelle aber setzt Kopitzky, als er Deus-ex-machina-ähnlich über seine Stiftung die Hälfte des Betrags übernimmt, den man zur Rettung des Schwimmbads auftreiben sollIm Gegensatz dazu ist Hotte ein Ansprechpartner auf Augenhöhe. Mit ihm kommt es zum Streit, als er sich reingelegt und belogen fühlt. Den Bruch zu kitten, bleibt eine der schwierigen Aufgaben für Matti und Otto. Die Figur Hottes aber stellt ein Schlüsselelement dar, das die fiktive Schwimmbadaktion mit dem 1968er Protest verknüpft. Nicht die Nachfolgegeneration, sondern die Enkel setzen fort, was damals begann. Die Wertschätzung Hottes bestätigt die Autorin durch versteckte Hinweise auf eigene literarische Referenzgrößen. So erwähnt Silke Lambeck scheinbar beiläufig Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl als Mattis Hausarrest-Lektüre und benennt die Schule nach Gabriele Tergit.
Mein Freund Otto, das Blaue Wunder und ich ist kein gendergerechtes Buch. Daran ändert auch nichts, dass die Mitschülerin Mina so stark im Basketball ist. Dass Mädchen und Frauen die zweite Geige spielen, kann man bedauern, in einem Kontext aber, in dem Jungen sich als literarische Leser schwertun, liefert eine solche Parteinahme einen nicht zu unterschätzenden Grund zur Befürwortung des Buches. Hinzu kommt eine ganze Reise literarischer Qualitätsmerkmale wie der behutsame Umgang mit Leitmotiven, die geschickte Funktionalisierung von Nebenhandlungen, die überzeugende Ökonomie des Erzählens und ein kindergerechter, aber differenzierender Sozialrealismus. So gelingt es Silke Lambeck, mit Matti und Otto zwei attraktive literarische Figuren zu schaffen, die auch den Leser als Verbündeten gewinnen.
Die Jury 2022
Nicola BARDOLA | München
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Isabelle ENDERLEIN | Berlin
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Alfred GULDEN | Saarlouis, München
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
Mehr Informationen zur Jury
Nathalie Stragier
Grand appartement bizarre : plein de chambres à louer !
Syros | ab 8 Jahre
Ein Zusammenleben, das stärker ist als alles andere…
Was kann man tun, wenn die Wohnung, in der man lebt, unbezahlbar wird? Umziehen!
So haben es die Erwachsenen beschlossen. Aber Gabriel verbindet diesen Ort mit den Erinnerungen an seine verstorbenen Eltern und will ihn nicht verlassen. Es erfordert die ganze Naivität, den Erfindungsreichtum und die Spontaneität eines Kindes, um auf die Lösung zu kommen, die der Junge sich dann einfallen lässt, um sein Ziel zu erreichen, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Seine Idee? Die große Wohnung mit dem herrlichen Blick auf den Eiffelturm mit der Familie von Félix zu teilen, die ebenfalls ausziehen muss – weil das Geld nicht mehr für die Miete reicht. Sehr glaubwürdig und ohne in Klischees zu verfallen, nimmt eine neue Art des Zusammenlebens von Seite zu Seite Gestalt an, ein fröhlicher Wirbel außerhalb der Norm, über alle Altersgruppen, soziale Grenzen, Charaktere und Vorurteile der einzelnen Personen hinweg. Während die einen den Platz haben, bringen die anderen unerwartete Vorzüge mit, und das gegenseitige Lernen von Verschiedenheit und Toleranz trägt schließlich Früchte: ein eigenes Zuhause, das zu einem warmen, weltoffenen geteilten Zuhause für alle wird. Und ein vielversprechendes gesellschaftliches Modell, das brillant zwischen Humor und Emotionen in Szene gesetzt wird – eines, das bewusst positiv ist und funktioniert!
Panégyrique | Mathilde Lévêque
Après ces dix années si riches et constructives, dont nous venons d’évoquer les moments forts, les échanges parfois vifs mais toujours passionnés entre les jurés de chaque pays, et entre les deux jurys réunis, ces dix bougies soufflées ensemble nous ont cette année, comme une évidence, réunis et menés vers deux titres qui se répondent particulièrement bien et correspondent parfaitement à la dimension franco-allemande du Prix. Certes tous les livres des deux shortlists française et allemande auraient mérité d’être primés, et à plus d’un titre ! Chacun dans leur genre, tous nous ont tour à tour émus, captivés, fait sourire, interrogés, séduits... Quel plaisir nous avons eu à les lire et à débattre ! Mais dans deux d’entre eux, comme par un jeu de miroir, les thématiques de l’engagement, de l’initiative collective, du vivre-ensemble, des causes qui peuvent paraitre perdues de prime abord et qui méritent pourtant d’être défendues jusqu’au bout, nous ont particulièrement charmés. Oui, à l’époque troublée qui est la nôtre, les messages d’espoir, de solidarité, de générosité, de naïveté et d’utopie salvatrices peuvent venir des enfants, de leur fraîcheur, de leur capacité à se fédérer et à entrainer les adultes dans leurs rêves d’un monde meilleur.
« Croire jusqu’au bout à ses rêves d'enfants » : ainsi pourrait-on résumer l’esprit des deux livres que nous avons décidé de primer et, à côté de Mein Freund Otto, das blaue Wunder und ich, Grand appartement bizarre : plein de chambres à louer de Nathalie Stragier, paru chez Syros.
Grand appartement bizarre nous narre l’incroyable épopée d’un appartement parisien, qui grâce à l’initiative d’un, puis de plusieurs enfants ne sera pas vendu ni dépossédé de son âme, mais deviendra au contraire une colocation solidaire, une oasis de poésie et de chaleur humaine, un joyeux capharnaüm bruissant de rires et de tendresse, tranchant avec le monde aseptisé, glacé et esthétisant du « chacun pour soi ». Et ce sont bien des enfants qui réussissent, non sans peine, à créer ce petit miracle d’humanité, à entrainer telle mère ou tels pères déboussolés dans leur quête d’un vivre ensemble réinventé. Le tout avec une vue imprenable sur la Tour Eiffel ! Le vivre ensemble, pourtant, n’est pas évident : il faut savoir accepter l’autre, les autres, bouleverser le confort des habitudes et de la routine, instaurer une organisation nouvelle qui permette de concilier les différents rythmes de vie. Dans ce grand appartement bizarre, c’est peut-être un peu aussi de la construction de l’amitié franco-allemande que nous y avons retrouvé, de cette ouverture à autrui qui est aussi une ouverture de soi, pour construire ensemble un monde plus solidaire et plus uni. De Paris à Berlin, c’est un peu de l’esprit du Prix franco-allemand de la littérature pour la jeunesse que nous y avons perçu, sans doute inconsciemment, mais néanmoins à juste titre, en particulier en écho avec le roman de Silke Lambeck et nous vous félicitons chaleureusement toutes les deux, ainsi que les illustratrices, Clémence Pénicaud, côté français, et Barbara Jung, côté allemand.
Die Jury 2022
Nicola BARDOLA | München
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Isabelle ENDERLEIN | Berlin
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Alfred GULDEN | Saarlouis, München
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
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