über sein Buch Le secret de Mona
Wir stellen Ihnen Patrick Bard vor, einer der nominierten Autoren der Shortlist 2021, den wir über sein Buch „Le secret de Mona“ befragt haben. Das Interview wurde von Lylou Moulin auf Französisch geführt. Die Übersetzung finden Sie weiter unten.
Lylou Moulin ist eine französische Studentin mit einer Leidenschaft für das Lesen. Sie freut sich stets, neue Wege einzuschlagen und spannende Entdeckungen zu machen. Mit fünf Kommilitoninnen hat sie das deutsch-französische Kinderbuch „Wie das Chamäleon sein Talent gefunden hat“ geschrieben.
Die Übersetzung des Interviews
Lylou (L): Ich freue mich sehr sie kennen zu lernen, Patrick Bard.
Heute werden wir ein bisschen über Ihr Buch und auch über Sie sprechen, wenn Sie einverstanden sind. Ihr Buch, Le secret de Mona, erzählt die Geschichte eines Mädchens, Mona, die sich um ihren kleinen Bruder kümmern muss. Die Geschichte fängt mit einem Verkehrsverstoß an, den sie begeht, um ihr kleiner Bruder ins Krankenhaus zu bringen, aber mehr will ich nicht verraten! Die Handlung spielt in der heutigen Zeit, genauer gesagt im Jahr 2019 in der französischen Region Perche. Zunächst einmal möchte ich Ihnen gratulieren, denn es ist wirklich ein Roman, der beim Lesen Spannung und Überraschung bietet und den Leser bis zur letzten Seite fesselt. Wie haben Sie es geschafft, diese Überraschung und Spannung durch das ganze Buch zu ziehen? Hatten Sie die Idee schon zu Beginn des Schreibprozesses, oder kam sie im Laufe des Schreibens?
Patrick Bard (PB): Also... Überhaupt nicht. Eigentlich habe ich mich selbst überrascht. Und ich denke, dass die Überraschung auch deshalb so gut funktioniert, weil ich beim Schreiben Dinge geschrieben habe, an die ich selbst tief geglaubt habe. Was sehr wichtig ist, denn wenn der Autor nicht an das glaubt was er schreibt, tut es der Leser auch nicht. Als ich vor langer Zeit mit dem Schreiben anfing sagte mir ein befreundeter Schriftsteller namens Thierry Jonquet, der jetzt tot ist: „Weißt du, du musst immer versuchen, etwas zu schreiben, was der Leser nicht erwartet. Und was der Leser nicht erwartet, ist nicht das Gegenteil von dem, was der Leser erwartet, denn der Leser ist nicht dumm. Er wird sehr schnell verstehen, dass man systematisch das Gegenteil von dem schreibt, was er erwartet, also wird er sehr schnell erwarten, was man dann schreibt. Also funktioniert es in Wirklichkeit nur, wenn man sich selbst überrascht und etwas schreibt, was man selbst nicht erwartet hat.“ Und genau das ist mit Le secret de Mona passiert. Jedes Mal, wenn ich am Ende eines Kapitels an einen Wendepunkt kam, stellte ich mir die Frage: „Was wäre, wenn...?“ Und ich habe in meinem Kopf mehrere Optionen überlegt. Ich habe jedes Mal, je nach Situation eine Entscheidung gefällt. Und so entfaltet sich der ganze Roman mit einer Handlung, über die wir nichts sagen werden. (lacht) Und irgendwann geht es darum eine Tür zu öffnen, mehr wollen wir nicht verraten... Und ich stelle die Frage „Was wäre, wenn?", und ich treffe eine Entscheidung. Und ich treffe die Entscheidung, die eine völlig andere ist als die, die ich mir vorgestellt hatte. Das heißt, bis dahin bin ich meinem Faden gefolgt, ich dachte, ich gehe dorthin und ich bin ruhig hingegangen. Nun, in dem Moment, wo sich die Tür öffnen sollte, stelle ich die Frage „Was wäre, wenn?“, und dann treffe ich natürlich eine andere Entscheidung, ganz und gar nicht diejenige, die ich erwartet hatte. Das Gleiche gilt für alle Passagen, bei denen ich mich entscheiden musste. Das gilt für Türen, das gilt für Freundschaften, das gilt für viele Dinge in diesem Roman. Jedes Mal gewinnt das „Was wäre, wenn?".
L: Das war richtig, das „Was wäre, wenn?“ zu wählen, weil es am Ende ein sehr gutes Ergebnis liefert, sehr überraschend. Ist der Charakter von Mona komplett erfunden oder haben Sie sich von etwas inspirieren lassen, das Sie gelesen hatten, oder von etwas Bestimmtes?
PB: Der Charakter von Mona wollte ich schon lange erschaffen. Ich wollte schon seit sehr langer Zeit einen extrem mutigen weiblichen Charakter erschaffen, der sich den Widrigkeiten stellt, aus ganz vielen Gründen. Der erste dieser Gründe ist, dass der Ort, an dem ich wohne, auch ein Ort ist, an dem ich mehrere Jahre lang ein wenig Verantwortung ausgeübt habe, und zwar für einige Jahre als Stadtrat. Ich habe also Familien in Schwierigkeiten gesehen. Und auf dem Land ist die Armut nicht geringer als in der Stadt, sie ist nur versteckter, weil die Menschen sich schämen. Es ist klein und so kann man umgehen, sie zu zeigen. Die Menschen neigen dazu sich in sich selbst zu verschließen und sich in ihren Schwierigkeiten zu einzuschließen. Nur als Sozialarbeiter oder als Stadtrat „auf dem Feld“, wird man mit den Schwierigkeiten dieser Familien konfrontiert und sieht sie ein wenig genauer. Ich habe die Not vieler dieser ländlichen Familien gesehen, in einem Kontext, in dem der Staat, die Gemeinden und die öffentlichen Dienstleistungen eine nach der anderen verschwinden. Das macht die Prekarität dieser Familien noch schlimmer und so entstand die Bewegung der „Gelben Westen“, die zum großen Teil eine Folge dieses Rückzugs des Staates, der öffentlichen Dienste, der Vernachlässigung einer ganzen Reihe von Gebieten in Frankreich war. Ich konnte diese Realitäten sehen. Und außerdem hatte ich als Jugendbuchautor die Gelegenheit, sehr viele Jugendliche in ganz Frankreich zu treffen. In Mittelschulen, in weiterführenden Schulen, oft in ländlichen Gegenden; ich unterrichte auch manchmal. Schließlich wurde mir klar, dass es viele Kinder, auch viele Jugendlichen gibt, deren Eltern sehr beschäftigt sind, alleinerziehend sind, wo die Mütter sich um absolut alles gleichzeitig kümmern müssen. Da sind die Kinder ein bisschen auf sich allein gestellt und sie müssen das Leben so gut wie möglich meistern. Mona ist ein bisschen das Ergebnis von all dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe.
L: Was in dem Buch interessant ist, ich habe aus Neugier nachgeschaut, ob Saint Guillaume existiert - wo die Figur von Mona lebt - und es existiert nicht im wirklichen Leben, aber es erlaubt vielen Menschen, durch die Geschichte, die Mona erlebt, oder die Figuren um sie herum, wie zum Beispiel die Polizisten, sich selbst zu sehen. Und was ich auch interessant fand, war wirklich zu sehen, was die Polizisten denken, was sie fühlen, und nicht nur Mona. Sind Sie zu Polizisten gegangen, um sie zu fragen, wie sie sich fühlen? Es fühlt sich wirklich sehr real an.
PB: Ja, natürlich! In der Regel, wenn ich einen Roman schreibe, recherchiere ich vorher sehr viel. Es ist wichtig zu wissen, wovon man spricht. Ich bin zu einer Polizistin gegangen, die mir bei meiner Arbeit, bei meinen Recherchen sehr geholfen hat. Als ich ihr erzählte, was ich in meinem Roman darstellen wollte, sagte sie mir: „Es ist unglaublich, ich war früher in den Vogesen stationiert und wir hatten genau so ein Fall.“ Es fing gleich in der Realität an. Ich verstand, dass wir uns tatsächlich in der realen Welt befanden, nicht nur in meinem Roman, sondern tatsächlich in völlig abgelegenen ländlichen Regionen. Die Idee kam mir, als ich im Jahr 2000 in der Zeitschrift USA Today einen Artikel über einen kleinen Jungen las. Ich schob es in den Hinterkopf und sagte mir „eines Tages werde ich damit etwas machen“.
Diese Polizistin hat mir von ihrem Alltag mit prekären Familien erzählt und es ist ein Alltag, der nicht sehr weit von dem entfernt ist, was ich in dem Roman erzähle. Sie hatte gerade eine Mutter daran gehindert ihr Leben zu beenden und gleichzeitig das Leben ihrer Kinder zu beenden. Sie war verzweifelt, sie befand sich in absoluter sozialer Not, sie sah keinen Ausweg, und sie war im Begriff das Unwiederbringliche zu begehen. Es war ihr gerade gelungen diese Frau daran zu hindern, das Unwiederbringliche zu begehen. Wir haben sehr lange gesprochen, sie hat mir erklärt, wie die Abläufe sind. Es gab auch die Gespräche mit der Sozialarbeiterin. Die Worte der Sozialarbeiterin im Roman unterscheiden sich nur wenig von den Worten der Sozialarbeiterin im wirklichen Leben.
L: Sie sagen, dass Sie diese Idee schon vor langer Zeit hatten und dass Sie sie in einer Ecke Ihres Kopfes aufbewahrt haben, um diesen Roman zu schreiben. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mehrere Bücher geschrieben, wo finden Sie die ganze Inspiration für diese Romane?
PB: Ich denke das Leben hat viel mehr Fantasie als jeder Schriftsteller. Wenn man sich all die unglaublichen Dinge anschaut, die auf dieser Welt passieren, denkt man: Na ja, wenn das jemand geschrieben hätte, dann hätte man gesagt: „Na ja, er übertreibt“. Das jüngste Beispiel ist diese Pandemie, die uns getroffen hat. Die Realität ist ein unerschöpfliches Reservoir an Geschichten und eine Inspirationsquelle und natürlich finde ich dort meine Ideen. Außerdem ist meine Literatur eine soziale Literatur, eine Literatur der Realität und gleichzeitig bringe ich einen Hintergrund als Autor von Kriminalromanen mit. Der Kriminalroman ist eine Art, über die Welt zu sprechen wie sie ist und im Allgemeinen geht es ihr nicht gut.
L: Ich würde sogar sagen, dass Ihre Literatur auch engagiert ist, angesichts der Themen, die Sie behandeln. Indirekt zeigen Sie, dass nicht alles gut läuft, weisen darauf hin und heben die Schwierigkeiten hervor.
PB: Ich nehme gern den Vorhang zur Seite und zeige, was hinter der hübschen Kulisse steckt. Auf dem Land ist es sehr schön, sehr hübsches Bühnenbild und es ist auch wahr, dort lässt es sich gut leben, auch das ist wahr. Aber leider stehen die Stadtzentren auf dem Land oft nicht besser da, als bestimmte unterprivilegierte Gegenden in den großen Städten.
L : Ich war ein wenig überrascht, dass Ihr Buch der Kategorie „Jugend“ angehört. Es könnte für ein breiteres Publikum „zugänglich“ sein, so sehr der Überraschungsaspekt gegeben ist; das Thema kann auch Erwachsene berühren und interessieren. Warum die Kategorie „Jugendliteratur“?
PB: Eigentlich habe ich viele verschiedene Antworten. Die erste ist das Alter von Mona, die die Hauptfigur des Romans ist. Es fällt mir schwer wirklich zu wissen, was ein Jugendbuch ist. Denn in der Realität schwankt es ständig. Als ich selbst ein Kind war, war der erste Roman, den ich gelesen habe, Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, für den er sogar den Literaturnobelpreis bekam und der zu meiner Zeit als Jugendliteratur eingestuft war. Genauso wie Herman Melvilles „Moby Dick“. Heute sind die beiden Romane, die ich zitiere, überhaupt nicht mehr in der Jugendliteratur zu finden. Mein erster Roman, der ein Erwachsenenroman ist, ein hartgesottener Krimi, wird bei dem Brevet (Prüfung nach der 9. Klasse in Frankreich) genutzt. Mein vierter Roman, in dem es um die Adoptionsmafia in Guatemala geht und der - ebenfalls - ein super hartgesottener Krimi ist, hat einen Schülerpreis gewonnen. Das beweist also, dass es letztlich, abgesehen vom Alter der Hauptprotagonisten, schwer zu sagen ist, was ein Jugendroman und was ein Erwachsenenroman ist. Vor allem in der Kategorie „junge Erwachsene“, da ich in der Kategorie „junge Erwachsene“ veröffentlicht werde. Das ist klar, dass meine 16-jährigen Leser Dinge lesen, die auch erwachsene Leser lesen, das gilt nicht nur für meine Büchern, sondern ganz allgemein. Das bringt mich dazu zu sagen, dass man mit jungen Lesern über alles reden kann, mit jungen Erwachsenen kann man über absolut alles reden. Ich denke, es kommt auf die Art und Weise an, wie man darüber spricht. In meinen kühnsten Träumen stelle ich mir gemeinsame Lesegekategorien zwischen Erwachsenen, jungen Erwachsenen und Jugendlichen vor und ich stelle mir vor, wie sie sich austauschen könnten, Bücher teilen könnten und über sie sprechen könnten. Das ist natürlich ein wunderbarer Traum und ich habe mit meinen drei Jugendromanen das Glück gehabt, dass das passiert ist. Ich fühle mich absolut erfüllt.
L: Das ist eine sehr, sehr schöne Antwort. Möchten Sie ein letztes Wort sagen über den Roman oder über das Lesen im Allgemeinen?
PB: Nun, was könnte ich sagen? Ich könnte sagen, dass Geschichten für unser Überleben als menschliche Spezies unerlässlich waren. Ich glaube sie sind unerlässlich und werden es auch weiterhin sein. Es sind die Geschichten, die die Menschen verbinden und damit auch die Kinder und die Jugendliche; es sind die Geschichten, die die Menschheit vereinen. Ich bin sehr glücklich, ein Mitglied der Erzählgemeinschaft zu sein.
L: Vielen Dank, dass Sie uns die Möglichkeit geben, durch das Lesen Ihrer Geschichten ein Teil der Geschichte zu sein.
PB: Wissen Sie, ein Buch ist nicht viel. Ein Buch ist ein Überträger von Empathie. Um seine Figuren lebendig zu machen, muss der Autor fühlen, was die Figuren fühlen. Und dann fühlt der Leser, wenn er sich mit der Figur identifiziert, was die Figuren fühlen. Der Überträger der Empathie zwischen Autor und Leser ist also der Roman.
L: Deshalb würde ich nicht unbedingt sagen, dass ein Buch „nicht viel“ ist, denn es hat die Rolle diese Botschaft zu übermitteln, also nicht „nicht viel“, sondern es spielt eine wichtige Rolle.
PB : Ich sage „nicht viel“ aus Bescheidenheit, aber ich denke kein Wort davon, ich bin bescheiden! (lacht) Vielen Dank auf jeden Fall!
L : Danke, es war sehr interessant, wirklich, dankeschön!