Interview mit Grit Poppe

Verraten

über ihr Buch Verraten

 

Wir stellen Ihnen Grit Poppe vor, eine der nominierten Autorinnen der Shortlist 2021, die wir über ihr Buch „Verraten“ befragt haben. Das Interview wurde von Luise Kwak und Marie Meyer auf Deutsch geführt. Die Transkription finden Sie weiter unten.

 

Interviewerin Julia ClaaßenLuise Kwak ist 21 Jahre alt, versucht, die Welt aber weiterhin durch Kinderaugen zu sehen, sie durch Fragenstellen und durch bereichernde Begegnungen besser zu verstehen. Ihr deutsch-französisches Studium der grenzüberschreitenden Kommunikation und Kooperation hat sie vom größten Bundesland in eins der kleinsten geführt. Dass Großes aber oft im Kleinen entsteht, durfte sie selbst miterleben, als sie mit fünf Kommilitoninnen das deutsch-französische Kinderbuch „Wie das Chamäleon sein Talent gefunden hat“ geschrieben und veröffentlicht hat.

 

Interviewerin Marie MeyerMarie Meyer ist eine französische Studentin, die von Kunst und der deutschen Sprache begeistert ist. Sie entdeckt gerne neue Kulturen, sei es durch Begegnungen mit anderen Personen oder durch Museumsbesuche.

 

Die Transkription des Interviews

 

Luise (L): Guten Tag und herzlich willkommen, Frau Poppe von Marie und von meiner Seite. Wir freuen uns, dass wir Sie heute interviewen dürfen, über ihr Buch „Verraten“. Und damit alle Zuhörer:innen wissen, worum es geht, fasse ich kurz den Inhalt zusammen, bevor wir quasi in die Fragen einsteigen. „Verraten“ ist die Geschichte von Sebastian und Katja. Sebastian ist 16 Jahre alt und landet aufgrund eines tragischen Verlusts seiner Mutter in einem Heim in der DDR. Es spielt 1986. In dem Heim lernt er Katja kennen. Und in diesem Heim erfahren sie sehr viel Gewalt und Grausamkeit. Sebastian hat aber das Glück, dass er nach einigen Tagen aus diesem Heim entlassen wird, weil sein Vater sich seiner annimmt. Und der Tag der Entlassung Sebastians fällt mit dem Tag der Flucht und des Verschwindens von Katja zusammen, was natürlich kein Zufall ist. Die beiden verlieben sich im Laufe der Geschichte ineinander und Katja lebt einige Zeit versteckt auf dem Dachboden, der zu der Wohnung von Sebastians Vater gehört. Das Buch ist eine sehr, sehr spannende Geschichte. Gleich am ersten Schultag wird Sebastian von der Stasi angeheuert, als inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten und lässt sich widerwillig dazu überreden, quasi als Spitzel zu arbeiten und Bericht über seinen Vater und auch über Menschen in seinem Umfeld, in der Klasse oder in einer Widerstandsgruppe zu erstatten.
 

Marie (M): In diesem Buch gibt es nicht nur eine, sondern zwei Hauptfiguren, die uns ihre Gefühle mitteilen. Aus welchem Grund haben Sie lieber die Geschichte aus zwei verschiedenen Standpunkten erzählt?

Grit Poppe (GP): Also eigentlich war das am Anfang gar nicht geplant. Ich hatte erst nur den Sebastian auf dem Schirm. Aber Katja, die eigentlich nur eine Nebenrolle spielen sollte, wurde als Figur plötzlich so präsent und stark und hat sich so in die Geschichte gedrängelt, könnte man sagen. Und beim Schreiben habe ich dann gemerkt, dass sie einfach von der Figur her so stark ist, dass ich sie jetzt nicht auf dem Abstellgleis warten lassen kann, sondern ich musste sie mit reinnehmen. Und sie ist ja auch durch ihre Lebensgeschichte und auch durch ihre Art immer wieder rebellisch zu sein, immer wieder aus diesem Heim zu flüchten, eben eine sehr starke Persönlichkeit. Und ich denke immer, dass das auch kein Zufall war und es hat sich dann irgendwie beim Schreiben so ergeben, dass sie neben Sebastian dann doch eine Hauptrolle spielt.

M: Und sie haben sich dafür entschieden Katjas Geschichte aus der Ich-Perspektive zu erzählen und sie als personale Erzählerin zu setzen, was Sebastian angeht. Warum? Was bedeutet dieser Unterschied für Sie?

GP: Ich hatte so das Gefühl, dass Katja eigentlich sehr in sich selbst ruht, also dass sie halt schon weiß, wer sie ist und wo sie hin will und wo sie nicht hin will. Und bei Sebastian ist es halt noch nicht so. Also der ist eher so der Typ, der möglichst wenig Ärger haben will und versucht, durch diese Krisen, die er erlebt, irgendwie gut durchzukommen. Er will natürlich auch Katja helfen, aber er ist noch verunsichert und sucht eher nach einem Ausweg und vielleicht auch ein Stück nach sich selbst. Während Katja schon „Ich“ sagen kann, die lebt auch in diesem „Ich“. Die macht einfach was sie für richtig hält und ignoriert dann auch diese Strafmaßnahmen oder diese ständige Umerziehungspädagogik. Also sie versucht dem immer zu entkommen und bei sich selbst zu bleiben, weil sie halt schon diese gereifte Persönlichkeit ist, die „ich“ sagen kann.

L: Ich fand es sehr beeindruckend, wie es Ihnen gelungen ist, die Geschichte quasi ins richtige Setting zu bringen, mit ganz vielen verschiedenen Details. Mit Stilmitteln, die sie eingesetzt haben und das auch an einzelnen Dingen festgemacht haben, wie der Bambina-Schokolade, dem Konsum, dem Muckefuck, dem Pittiplatsch und so weiter. Sie haben diese Zeit ja selbst auch erlebt. Ist es Ihnen leicht gefallen das zu schreiben? Ich habe mich gefragt, ob Sie z.B. das Manuskript an jemanden außerhalb der Lektoren gegeben haben, um zu gucken, ob das für die Person dann in diesem Setting spielt.

GP: Naja, das mache ich eigentlich eher selten. Also wenn, dann nur einzelne Abschnitte, wo ich mir vielleicht nicht so ganz sicher bin. Aber ich arbeite viel mit Zeitzeugen. Hier war das auch so, dass ich mir dann Zeitzeugen gesucht habe. Also einmal zu dieser Heimthematik, die kannte ich ja schon. Also Bad Freienwalde gab es ja wirklich - dieses Durchgangsheim. Und ich habe seit einigen Jahren Kontakt zu Ehemaligen, also zu Betroffenen. Und da habe ich auch ab und zu nochmal nachgefragt, speziell zu dieser Zeit des Ankommens dort und was die dort erlebt haben in den ersten Tagen. Und das zweite war dann, jemanden zu finden, der selber als Jugendlicher inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen ist. Und das war dann schon ein bisschen schwieriger, da jemanden zu finden. Klar, also die werden ja heute offiziell als Opfer betrachtet, weil sie minderjährig waren und im Grunde verführt und von der Staatssicherheit missbraucht wurden. Andererseits haben sie natürlich auch Schuld auf sich geladen, also haben auch Leute verraten. Und da sprechen die Betroffenen natürlich nicht so gerne drüber. Ich habe dann aber doch jemanden gefunden, den Christian Ahnsee, der mit 15 von der Stasi geworben wurde und es aber aus eigenem Antrieb nach neun Monaten geschafft hat abzuspringen, was relativ selten so war. Also die meisten sind länger da geblieben. Die meisten haben sich nicht getraut, irgendwie da wieder abzuhauen. Und bei ihm war das so, dass er sich zunehmend unwohl fühlte und dann eben Ausweg gesucht hat. Und er hat sich also auch lange Zeit nach der Wiedervereinigung mit diesem Thema beschäftigt. Also für den war das auch nicht einfach so erledigt oder so. Und deswegen war das auch eine gute Zusammenarbeit. Er hat mir dann auch seine Akte gegeben, dass ich da mal reingucken konnte und hat meine Fragen beantwortet. Also es war schon gut und das war mir auch wichtig, dass ich jemanden habe, der das wirklich selbst erlebt hat.

L: Und wie viel Recherche Zeit ist vorausgegangen, bevor das Buch quasi jetzt so ist, wie wir es in der Hand haben?

GP: Das ist schwer zu sagen, weil mit dieser Heimthematik beschäftige ich mich ja schon seit über 10 Jahren, also seit dem Erscheinen oder seit der Recherche zu „Weggesperrt“. Das war ja der erste Roman und dadurch, dass dieses Buch eben recht erfolgreich war, auch in vielen Schulen gelesen wurde, bin ich dann oft auch mit Zeitzeugen auf Lesereise gegangen – also in den Schulen. Und habe die natürlich dann auch sehr gut kennengelernt. Und dadurch kam auch dieser Kontakt zu den Betroffenen von Bad Freienwalde zustande, die mich dann auch mal eingeladen haben zu ihren Treffen. Dann habe ich sie wieder besser kennengelernt. Und eigentlich kamen da immer wieder neue Geschichten dazu. Bis heute ist es so, dass da mal wieder was dazu kommt oder auch Leute dazukommen, die ich vorher noch nicht kannte. Man kann jetzt eigentlich gar nicht so sagen, das hat jetzt drei Monate oder ein halbes Jahr gedauert, weil es mich schon lange begleitet. Und die Staatssicherheit als Thema habe ich ja auch schon länger auf dem Schirm. Ich war selber auch Betroffene, also meine Familie, hauptsächlich mein Vater, der in der DDR die Initiative für Frieden und Menschenrechte gegründet hat. Und das galt halt als staatsfeindlich, also das wollten die nicht. Und der hatte dann auch die Stasi am Hacken, und dadurch, dass ich seine Tochter war, hatte ich die denn auch öfter am Hacken, das heißt die haben uns regelrecht verfolgt, auch observiert. Die haben Hausdurchsuchung gemacht, es gab auch Verhaftungen im Umfeld und zum Beispiel hat mein Vater auch so Wanzen ausgebaut. Das kommt ja auch im Buch vor, solche Sachen kamen halt auch aus eigenem Erleben.

L: Und jetzt sind ja gerade leider wahrscheinlich solche Lesereisen nicht möglich. Hat Sie trotzdem schon Feedback erreicht von den jungen Leser:innen?

GP: Naja es ist nur vereinzelt. Es ist natürlich jetzt ein bisschen schwierig, klar, die großen Schullesungen waren noch nicht. Aber ich hatte vor ein paar Tagen ein Gespräch per Zoom mit einem Zwölfjährigen und dem war das total wichtig, dass er sich bei mir meldet. Und er war ganz begeistert von dem Buch und interessierte sich auch für Geschichte. Mit zwölf fand ich das sehr bemerkenswert. Ich habe ihm auch gesagt: „naja eigentlich ist das Buch ab 14“; er hat dann gemeint ach, er sei doch schon weiter, also kann er es ruhig lesen und mit mir darüber reden. Und das fand ich auch sehr mutig. Man hat auch gemerkt, dass er sehr aufgeregt war. Aber er hatte auch richtig gute Fragen, und da hatte ich das Gefühl: Okay ja, kann funktionieren.

L: Hat Ihnen einer der Zeitzeugen oder Betroffenen erzählt, dass ihnen eben auch eine Liebesgeschichte widerfahren ist, oder ist das was Fiktives für Ihr Buch gewesen?

GP: Na die Geschichte ist schon fiktiv. Also diese eher zarte Liebesgeschichte ist ausgedacht. Wobei es natürlich sowas auch immer gegeben hat. In Jugendwerkhöfen beispielsweise. Also ich habe, nachdem das Buch erschienen ist, ein Interview geführt mit einer, die im Jugendwerkhof gewesen ist, die mehrfach abgehauen ist und der drohte – eben ähnlich wie der Katja – Torgau als Strafmaßnahme. Und die ist dann mit einem Jungen abgehauen. Also soviel hat sie darüber nicht erzählt, aber angedeutet, dass sie mehr als nur befreundet waren. Dieser Junge hat sie also mitgenommen zu seiner Familie, also zu seiner Mutter und Geschwistern. Und sie hat sich dort versteckt. Und der Junge, der ist da mal rausgegangen. Er wurde von der Polizei erwischt und zurückgebracht. Er hat aber nichts erzählt, hat nicht gesagt, dass seine Freundin, die eben aus dem Jugendwerkhof ausgerissen ist, jetzt bei seiner Mutter ist. Sonst wäre sie sofort nach Torgau gebracht worden. Und die hat es tatsächlich geschafft, sich dort ein halbes Jahr zu verstecken. Und sie hat dann auch gemeint, diese Familie hätte ihr das Leben gerettet, denn Torgau hätte sie nicht durchgestanden. Sie hat sich also bis zum 18. Lebensjahr – also dieses halbe Jahr noch – versteckt. Konnte natürlich nicht raus. Die hatten zum Glück wenigstens einen Garten. Auf dem Hof konnte sie auch mal ein bisschen frische Luft schnappen. Aber so richtig raus konnte sie natürlich nicht. Und das fand ich schon interessant, weil es dann wieder Parallelen gibt zum Buch.

L: Herzlichen Dank für all die Informationen und für die Zeit, die Sie sich genommen haben!

GP: Ich danke euch!

L: Und wir würden uns freuen, wenn wir Sie in Saarbrücken dann kennenlernen.

GP: Ja, ich freue mich auch schon drauf. Ich war noch nie in Saarbrücken.

 

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